Mein schlechtes Gewissen, wie ich meine Eltern behandelt habe

Mein schlechtes Gewissen, wie ich meine Eltern behandelt habe

Gedanken eines Altersforschers zum Altern und zum Umgang mit alten Menschen
Autor: Gundolf Meyer-Hentschel

Seit vielen Jahren besch?ftige ich mich mit dem Altern des Menschen. Anlass war die Erkenntnis, dass der demografische Wandel mit seiner schnell wachsenden Zahl alter und sehr alter Menschen unumkehrbar sein w?rde. Eine solche gesellschaftliche Konstellation hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Wir k?nnen also nicht aus der Geschichte lernen, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft immer ?lter wird, langsamer, aber auch reifer. Je mehr wir aber ?ber den Alterungsprozess wissen, welche biologischen und psychischen Ver?nderungen das Altern mit sich bringt, desto besser wird das Zusammenleben der immer geringeren werdenden Zahl junger Menschen mit den Alten gelingen. Dies war 1994 einer der Gr?nde, warum ich den ersten Altersanzug entwickelt habe.

In diesem Beitrag m?chte ich schildern, wie der von meinem Team und mir entwickelte Altersanzug mich selbst beeinflusst und gepr?gt hat. Das h?ufige Erleben des Alters mit und in unseren Altersanz?gen – ja ich trage unsere AgeMan? und AgeExplorer?-Anz?ge immer wieder selbst, wie auf dem Foto oben – hat mich ver?ndert. Ich erlebe Altern inzwischen mit einer Mischung aus Verzweiflung und Bewunderung.

Altwerden ist ein mehrdimensionaler Prozess

Schlechter H?ren, schlechter Sehen, weniger Kraft, weniger Ausdauer, nachlassende Beweglichkeit, das alles kann man sich – isoliert betrachtet – noch ganz gut vorstellen. Etwas v?llig anderes ist es, diese Auswirkungen des Alterns kombiniert zu erleben. Denn gerade das ist typisch. Der K?rper altert nicht partiell, sondern ganzheitlich. Und um diese Kombination von Einschr?nkungen nachempfinden zu k?nnen, erweisen sich unsere Altersanz?ge t?glich als sehr effektiv.

Das erste Ergebnis dieses Blicks in das Alter – das ja auch das eigene Alter sein k?nnte – ist Verzweiflung. Jedenfalls bei mir und manchen anderen Probanden. Allerdings: Eine Wende ist m?glich, wenn man dann fragt, ob dies alles unausweichlich ist, oder ob man selbst ein bisschen steuern kann.

Wir k?nnen unser biologisches Alter beeinflussen

Das Altern ist unausweichlich, aber wir k?nnen die Zeitachse beeinflussen, in welchem Alter wir bestimmte Dinge erleben. Das motiviert dann wieder, weil wir aus der Rolle des “Opfers” in die Rolle des Gestalters wechseln k?nnen.

Wenn meine Waage feststellt, dass sich das Verh?ltnis zwischen Muskelmasse und Fett in meinem K?rper zu Lasten der Muskelmasse verschoben haben, kann einen das zun?chst kalt lassen. Wenn die Waage aber als Konsequenz meldet, dass mein biologisches Alter sich dadurch um 4 Jahre erh?ht hat, wird es bedrohlich. Genau so funktioniert Altern. Muskelmasse nimmt ab, Fettanteil steigt. Ergebnis: weniger Kraft, Einschr?nkungen der Beweglichkeit, das Leben wird beschwerlicher, anstrengender.

Dieser Wechsel zwischen Fettgewebe und Muskelmasse ist einer der Effekte, die man mit unseren Altersanz?gen erleben kann. Ohne den eigenen K?rper zu maltr?tieren und mit sicherer R?ckkehr in j?ngere Jahre. Man sp?rt es und kann die Schlussfolgerung ziehen, dass k?rperliches Training den Alternsprozess nicht aufhalten, aber zumindest verz?gern kann. Das Motto: Kalendarisch 80 sein, aber mit einem biologisch 65j?hrigen K?rper. Wie fast jede Reise kann auch die Reise in die eigene Zukunft sehr lehrreich sein und neue Optionen er?ffnen.

Mehr Bescheidenheit im Umgang mit alten Menschen

Was ich durch unsere Altersanz?ge auch gelernt habe und immer wieder neu erfahre: Urteile nicht ?ber andere Menschen, solange du nicht in ihrer Haut steckst. Diese uralte Erkenntnis kann man ohne ?bertreibung als zeitlose Weisheit bezeichnen. Indem ich freiwillig einen Altersanzug anlege und mich f?r Minuten oder Stunden in die Haut ?lterer Menschen einf?hle, gewinne ich wichtige Erkenntnisse.

Zum Beispiel die Bescheidenheit, nicht mit augenblicklicher Lebenskraft zu protzen, sondern Verst?ndnis und Bewunderung f?r die gebeugte alte Dame zu empfinden, die mit ganz kleinen Schritten ihren Einkaufsroller nach Hause zieht.

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass ich aus dem Verhalten ?lterer keine schnellen und oft falschen R?ckschl?sse ziehen soll. Wenn ich im Altersanzug beim Einkaufen unverh?ltnism?ssig lange zwischen zwei Joghurtmarken schwanke, ist nicht unbedingt mein Geist schwach, es k?nnten auch die kleinen Schriften auf dem Becher sein, die f?r meine Augen Schwerstarbeit sind.

K?rper und Geist altern nicht synchron

Viele alte Menschen berichten von der im Alter sich ?ffnenden K?rper-Geist-Schere. Der K?rper altert und b?sst manche Funktionen ein. Gleichzeitig bleibt der Geist wach, reift, man wird gelassener, und viele f?hlen sich wesentlich j?nger als ihr kalendarisches Alter: 15 Jahre j?nger, manche sogar 20 Jahre. Was f?r ein Quatsch, m?gen viele J?ngere denken, weil sie es sich – verst?ndlicherweise – nicht vorstellen k?nnen. Hier hilft unz?hligen Menschen – und nat?rlich auch mir – ein Altersanzug. Er ver?ndert mich k?rperlich, er vermittelt mir die Angst, zu st?rzen. Er l?sst mich die Isolation f?hlen, die nachlassendes H?rverm?gen zur Folge hat. Er l?sst mich die Wut sp?ren, wenn ich etwas nicht mehr allein kann, was ich 80 Jahre lang mit Leichtigkeit konnte. Er vermittelt mir das Gef?hl der Hilflosigkeit, anderen ausgeliefert zu sein. Aber der Anzug kann nicht mein Ich zerst?ren, genauso wie der Alterungsprozess das nicht kann, von demenziellen Ver?nderungen abgesehen.

Mein schlechtes Gewissen gegen?ber alten Menschen

Diese Erfahrung ist sehr lehrreich und l?sst mich – und viele andere auch – mit schlechtem Gewissen zur?ck. Warum habe ich meine gebrechlichen Eltern und Verwandten behandelt, als sei auch ihr Verstand gealtert? Warum habe ich ihren Rat nicht mehr ernst genommen? Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ein Altersanzug meinen K?rper verlangsamt, mein Geist aber alles in jedem Detail mitbekommt. Die Menschen, die nicht mehr mit mir, sondern mit meinen Begleitern sprechen. Die Menschen, die mir mitleidig ihre Hilfe anbieten und denken, ich k?nne nicht mehr klar denken, weil meine Knie ihren Dienst versagen. Die Menschen, die Schwerh?rigkeit mit Demenz verwechseln. Alles das und noch viel mehr habe ich fr?her nicht verstanden und viele alte Menschen nicht angemessen behandelt, manchen Unrecht oder sogar weh getan. Und manchmal hasse ich in diesen Momenten sogar meine Altersanz?ge, weil sie mir mein Fehlverhalten so schonungslos vor Augen f?hren.

Der Weg zu Verst?ndnis, Geduld und vielleicht sogar Faszination

Aber wir haben immer die Chance, nach vorne zu schauen. Wir haben die Gelegenheit, uns mit dem Alter und seinen unz?hligen Facetten zu besch?ftigen und – noch besser – den Mut aufzubringen, in die Haut der Alten und ganz Alten zu schl?pfen und f?r einen kurzen Moment ganz mit ihnen zu f?hlen. Und wenn wir dies intensiv tun, uns diese wenigen Minuten oder Stunden gut einpr?gen, dann besteht die M?glichkeit, dass viele alte Menschen, denen wir zuk?nftig begegnen, uns daf?r dankbar sein werden. Dankbar f?r unser Verst?ndnis und unsere Geduld und dankbar, dass wir vielleicht sogar in der Lage sind, alte Menschen zu bewundern und uns von ihnen faszinieren zu lassen. https://ageexplorer.com/fortbildungen-altenpflege-klinik/

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